ATMOSPHÄRE.  WECHSELBEZIEHUNG ZWISCHEN MENSCH UND MATERIAL

 

EINLEITUNG

Das fächerübergreifende Thema macht eine gegenseitige Annäherung zweier Disziplinen notwendig: Architektur und Philosophie. Sie finden an dem „unscharfen“ Begriff der Atmosphäre ihre Ergänzung. Die Probleme und Widersprüchlichkeiten zeigen sich schon beim ersten Versuch einer näheren Definition. Was ist Atmosphäre? Sie ist eine mit allen Sinnen gleichzeitig wahrgenommene Stimmung, ist jenes „Mehr, das unausgedrückt bleibt [...], das über das Reale Faktische hinaus liegt, das wir aber ineins damit spüren“ (Hubert Tellenbach)

Die Existenz von Atmosphären als alltägliches Phänomen ist jedem Menschen sofort zugänglich und direkt nachvollziehbar. Ihre in sekundenschnelle eintretende Wirkung geht von realen Objekten, Menschen und Umgebungen aus. Doch so unbestreitbar und gegenwärtig eine Atmosphäre sich auch präsentiert, bleibt sie paradoxerweise doch nicht wirklich greifbar: Beim Versuch, sie unter einem wissenschaftlichen Blick zu analysieren, entzieht sie sich der Objektivierbarkeit, lässt sich kaum in Begriffen fangen. Umso stärker „zeigt“ sie sich in der eigenen Befindlichkeit. Ihre Wirkung „messen“ kann lediglich das Subjekt, indem es sie eindeutig fühlt, spürt: Sie ist das Un-greifbare Mehr, das uns ergreift. Der Atmosphärenbegriff lässt sich von zwei Seiten her betrachten: Nicht nur von der Seite des Subjekts, das sich einer Atmosphäre aussetzt, sondern auch von der Seite der Objekte her, der Instanzen, durch die sie erzeugt wird. Mit der Frage: Wie wirkt Atmosphäre und wie entsteht sie? lässt sich diese Arbeit am kürzesten umschreiben. Während Philosophie sich eher mit der Wirkung der Atmosphären beschäftigt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Architektur auf ihre Entstehung. Diese Vorgehensweise spiegelt sich auch in der Gliederung: Von den insgesamt vier Kapiteln widmen sich die beiden ersten ihrer Wirkung, die letzten zwei ihrer Entstehung:
Die Arbeit beginnt mit einer allgemeinen Erläuterung des Atmosphärenbegriffes. „Atmosphäre“ und ihr Wahrnehmen als „leibliches Befinden“ sind phänomenologische Grundbegriffe, die auf Hermann Schmitz und Gernot Böhme zurückgehen. Die Beschäftigung mit dem Atmosphärischen eröffnet auch auf die Architektur eine neue Sichtweise: architektonische Qualität bedeutet jene Wirkung einer Umgebung auf den Wahrnehmenden, die ihn emotional berührt. Architektur wird als ein räumliches Gebilde betrachtet, das in „affektiver Betroffenheit“ erfahren wird. Erst durch unsere sinnlich- emotionale Wahrnehmung des Raumes bekommt er für uns eine eigene Bedeutung. Eine Grundstimmung in der Befindlichkeit des Subjekts im Moment der Anwesenheit an einem Ort oder in einem Raum ist fühlbar. Wahrnehmung ist so gesehen eine Erfahrung davon, dass man selbst da ist und wie man sich dort, wo man ist, befindet – diese Stimmungsqualitäten kann Architektur bewusst erzeugen.
Die oben beschriebene Grundstimmung oder der Gesamteindruck lässt sich auch in nicht explizit architektonischen Begriffen wie Wohlgefühl, Stimmigkeit, Zuhause-sein, ausdrücken. Die innige Verbindung von Mensch und Raum zeigt sich nicht nur darin, dass der Mensch seinem Wohnraum den Charakter seines eigenen Wesens aufprägt, sondern auch darin, wie er in seinem ganzen Wesen durch seinen Umraum bestimmt ist. Das Wohnen als „spezielles“ Verhältnis des Menschen zum Raum beinhaltet Qualitäten, die außerhalb des Sichtbaren und Greifbaren liegen und mehr als ein Dach-über-dem-Kopf-haben bedeuten – Geborgenheit, Intimität, Mütterlichkeit – fallen unter das Atmosphärische. Eine Wohnung bestimmt die Befindlichkeit der darin lebenden Menschen – doch was ist es, das eine Wohnung wohnlich macht? Hier geben Otto Friedrich Bollnow in Mensch und Raum und Gaston Bachelard in Poetik des Raumes wichtige Impulse. Die in poetischen Bildern ausgedrückten imaginierten Werte des Wohnens sind im Grunde ganzheitliche, atmosphärische Bilder. Dementsprechend haben auch Erinnerungsbilder eine atmosphärische Natur: Durch vertraute Sinneseindrücke ausgelöste Erinnerungen steigen ebenso als Stimmungen auf – hier verknüpft sich der Ort mit der Empfindung. Die Erinnerung ordnet die Erlebnisse nach ihrer emotionalen „Wichtigkeit“: Alle Erinnerungen an persönliche Erlebnisse „leben“ in atmosphärischen Bildern, „wohnen“ an Orten.
Wie entstehen räumliche Situationen, die uns berühren können, welche dynamischen Prozesse erzeugen Atmosphäre? Das Kapitel Atmosphäre durch Veränderung beschäftigt sich mit der Suche nach Methoden der architektonischen Inszenierung. Vier Möglichkeiten, eine „produktive Unbestimmtheit“ zu schaffen, werden eingeführt, die speziell für den architektonischen Planungsprozess von Bedeutung sein können: Das Unerwartete, das Unbestimmte, das Unkontrollierbare und die Inszenierung. Die produktive Unbestimmtheit speist sich aus einer Art Ambivalenz und bedeutet in der Architektur mehr Freiraum für die Phantasie des Nutzers zu schaffen. Etwas wird „leer- gelassen“ für eine Möglichkeit – dort, wo etwas geschehen kann, bleibt der Raum frei. Das Konzept des Unbestimmten trägt gleichzeitig das Flexible und Veränderliche in sich. Diese Art des Entwerfens sucht nicht nach fertigen Lösungen, sondern nach Möglichkeiten, die nicht zum identischen Handeln anregen, wie Funktionswechsel, Aneignung, Einladung zur Interaktion.
Das Kapitel Material als Atmosphärenträger erforscht schließlich das Material als den kleinsten Baustein der Architektur, das Interesse der Untersuchung richtet sich besonders auf seine Un-beständigkeit. Durch die Zeit ändern sich Materialien und damit das Bauwerk. Durch diesen Aspekt kristallisieren sich zwei – die Atmosphäre bestimmende – Tendenzen der Materialästhetik aus: die Ästhetik der Fehlerlosigkeit und Perfektion, und die Ästhetik der zeitlichen Veränderung. Was erzählt mir das Material, was berührt mich daran und warum? Altert etwas schön oder hässlich, und wie altern „neue“ Baustoffe? Bei der ersten Tendenz ist das Material lediglich für ein „Neu-sein“ geschaffen, hier stellt Veränderung einen Mangel dar. Bei der zweiten Tendenz bedeuten hingegen zeitlich bedingte Veränderungen etwas Positives, die Modifikation durch Zeit, Berührung und Materialbeschaffenheit ist affektiv aufgeladen. Wie an der Außenhaut eines Gebäudes das Klima, hinterlassen auch Menschen durch das Bewohnen ihre Spuren. Menschen formen mit jedem Tag ihre Umgebung von neuem, sie wohnen mit jedem Schritt und mit jeder ihrer Bewegungen. So weist auch das Material eine Sensibilität auf: Durch die Interaktivität mit dem Menschen als Prozess des Zusammenlebens reagiert es auf seine Handlungen. Durch den körperlichen Kontakt der näheren Umgebung hinterlässt das Material Spuren in uns, sowie wir am Material unsere Spuren hinterlassen.
Aus dieser Sicht werden veränderte Objekte angenommen, Veränderungen werden statt Mangel als Bereicherung betrachtet. Mit der Zeit langsam, von „selbst“ entstandene Oberflächen sind nicht imitationsfähig. Hier wird Patina als sinnliches Phänomen verstanden und empfunden und ist in Form von Gebrauch, Abnützung und Bewitterung – Mitträger der Atmosphäre.
Den Abschluss bilden drei ausgewählte Architekturbeispiele, die die obigen Überlegungen zur Entstehung von Atmosphäre unterstützen: das Haus in Cap Ferret von Lacaton & Vassal, der „Upper Lawn“ Pavillon von Alison & Peter Smithson und die Therme Vals in Graubünden von Peter Zumthor.